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NATO-Generalsekretär Stoltenberg: "China und Russland umzingeln zerstrittene westliche Allianz"

Das transatlantische Bündnis denkt in der Videokonferenz der Außenminister der NATO-Staaten immer lauter über einen Strategiewechsel nach. Den Ehrenplatz auf der Feindesliste nimmt wie gewohnt Russland ein, doch es bekommt Gesellschaft: China gilt als stetig wachsende Gefahr.
NATO-Generalsekretär Stoltenberg: "China und Russland umzingeln zerstrittene westliche Allianz"Quelle: AFP © John Thys

Die erste NATO-Außenminister-Videokonferenz nach den US-Wahlen und somit wohl die letzte in dieser Reihe für US-Außenminister Mike Pompeo begann am Dienstag. Der Leitgedanke, von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg explizit in den Vordergrund gerückt, ist der folgende: China und Russland stellen für die westliche Allianz eine steigende Bedrohung dar, während die NATO permanente Zwistigkeiten und Zerwürfnisse unter ihren Mitgliedern behandeln muss. In diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen Stoltenberg und der US-Botschafterin der NATO, Kay Bailey Hutchison.

"China investiert massiv in neue Waffen. Es rückt uns immer näher, von der Arktis bis nach Afrika … Es respektiert fundamentale Menschenrechte nicht und versucht, andere Länder einzuschüchtern," so Stoltenberg am Dienstag in der Pressekonferenz.

Er fügte sogleich hinzu: "Gleichzeitig stationiert Russland mehr Truppen in unserer Nachbarschaft, vom hohen Norden bis Syrien und Libyen." Überdies habe Russland als ein Ergebnis der Krisen in Belarus und Bergkarabach seinen Einfluss erhöhen können.

"Wir sehen, dass beide, China und Russland, viel mehr Exkursionen mit Schiffen und U-Booten unternehmen und Grenzen überfliegen", sagte US-Botschafterin der NATO Hutchison der Presse am Dienstag in einem getrennten Briefing. Außerdem sei das chinesische Militär im Weltraum sehr aktiv, so Hutchison.

China versuche, die Navigationsfreiheit für kommerzielle Schiffe einzuschränken und kaufe strategische Vermögenswerte in Europa auf.

Turbulente Zeiten für die NATO

Die letzten vier Jahre mit US-Präsident Donald Trump haben die westliche Allianz stark herausgefordert. Trump hatte die NATO am Anfang seiner Amtszeit sogar als "obsolet" bezeichnet, dann sich dafür entschieden, Kampftruppen aus Deutschland abzuziehen und dann damit gedroht, sich komplett aus der Allianz zurückzuziehen. Wenn sich die Partner, vor allem Deutschland, weiterhin weigerten, mehr für die gemeinsame Verteidigung zu zahlen, werde Amerika aus dem Bündnis aussteigen. 

Unter dem Druck von US-Präsident Donald Trump haben sich die NATO-Staaten vor einem Jahr vor dem Gipfel in London auf eine neue Aufteilung der Gemeinschaftskosten geeinigt. Deutschland zahlt tatsächlich ab 2012 so viel wie die USA. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur sieht der neue Aufteilungsschlüssel vor, dass von 2021 an der US-Anteil an den Gemeinschaftskosten von derzeit 22,1 Prozent auf 16,35 Prozent gesenkt und der deutsche Anteil von 14,8 Prozent auf 16,35 Prozent erhöht wird.

Auch der hastige Abzug der US-Truppen aus Afghanistan durch Trump stößt die NATO in ein Dilemma. Die USA waren im Oktober 2001 nach 9/11 unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush mit den NATO-Verbündeten in Afghanistan mit der Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung einmarschiert, also vor 19 Jahren. Innerhalb dieser Zeit ist weder Frieden in Afghanistan eingekehrt, noch wurde der Angriff auf die New Yorker Zwillingstürme "gerächt". Die NATO müsste somit unvollendeter Dinge abziehen. Die Mission, die ohnehin unklar und widersprüchlich scheint, bliebe unvollendet.

Währenddessen hatte das NATO-Mitglied Türkei S-400 Mittelstreckenabwehrsysteme vom Hauptfeind gekauft und hatte dabei auch noch den NATO-Partnern Griechenland und Frankreich mit Erkundungsschiffen im östlichen Mittelmeer auf der Nase herumgetanzt.

Nun erwarten sowohl Stoltenberg als auch Hutchison vom neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden, dass er sich mehr mit der westlichen Allianz identifiziert und auch mehr Führungswillen zeigt.

"Ich kenne Joe Biden als einen sehr engagierten Unterstützer der Kooperation, der Verbindung zwischen Nordamerika und Europa," drückte Stoltenberg seine Hoffnung aus und fügte hinzu:

"Wir sind von den Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten abhängig, aber gleichzeitig ist eine starke NATO auch wichtig für die Vereinigten Staaten. Nicht zuletzt, weil wir jetzt sehen, dass sich die globale Machtbalance mit dem Aufstieg Chinas verschiebt."

Biden als NATO-Verfechter

Bei der Gelegenheit lud Stoltenberg den künftigen US-Präsidenten zu einem NATO-Gipfel Anfang 2021 ein.

Die Staats- und Regierungschefs der inzwischen 30 NATO-Mitgliedsstaaten sollten zusammenkommen, "um insbesondere über die Zukunft der Anpassung der Allianz an die neuen Bedrohungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu entscheiden." Ein fester Termin für diesen Gipfel steht noch nicht fest.

Hutchison beschrieb den neu gewählten Präsidenten Biden als einen NATO-Fürsprecher. Seine erste Reise soll nach Europa, genauer zum NATO-Hauptquartiert in Brüssel gehen.

Was die Türkei betrifft, sagte Stoltenberg, die NATO-Mitgliedschaft würde verhindern, dass der Streit sich zu einem regelrechtrechten Konflikt hochschrauben würde und das Ganze außer Kontrolle geriete, auch wenn es einen versehentlichen Zusammenstoß zwischen den NATO-Partnern auf dem Mittelmeer gegeben haben sollte,  

"Wenn Oruç Reis in seinem Hafen anliegt, so wie von heute ab, würde das helfen, Spannungen zu verringern."

Oruç Reis – so heißt das Explorationsschiff der Türkei, mit dem sie im östlichen Mittelmeer, im Seegebiet, das Griechenland und Zypern als Ausschließliche Wirtschaftszone für sich beanspruchen, Erdgaserkundungen durchgeführt hat. Dass die Oruç Reis wieder im Hafen ist, sei ein gutes Zeichen, sagte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Merkle betonte aber auch das "aggressive" und "provokative" Verhalten der Türkei, weswegen es keinen Fortschritt in den türkisch-europäischen Beziehungen gegeben habe.

Auch hinsichtlich des kürzlich von der Türkei von Russland erstandenen und inzwischen auch getesteten S-400-Waffensystems hatten die USA der Türkei mit Sanktionen gedroht.

"Wenn du ein in Russland hergestelltes Raketenabwehrsystem ins Zentrumunserer Allianz stellst, bewegst du dich außerhalb der Spielgrenzen. Das würde die Interoperabilität innerhalb der Allianz verletzen," so Hutchison. Sie gab ihrer Hoffnung Ausdruck, die Türkei würde ihre Entscheidung wieder rückgängig machen und fügte hinzu:

"Wir bitten die Türkei, wieder die großartige Verbündete zu werden, die sie einmal war."

Reformvorschläge der Experten

In der NATO hat ein Jahr nach der beißenden "Hirntod"-Kritik von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Debatte über konkrete Reformvorschläge begonnen. Die Außenminister der 30 Bündnisstaaten debattierten am Dienstag erstmals über Handlungsempfehlungen einer Expertengruppe. Die Vorschläge zielen darauf ab, die politische Zusammenarbeit im Bündnis zu verbessern und schneller zu Entscheidungen zu kommen.

Auch die Türkei hat wie jeder andere NATO-Staat ein Veto-Recht bei allen Bündnisentscheidungen. Dabei ist ihre Politik zugleich einer der Hauptgründe, dass in der NATO überhaupt über eine Reform nachgedacht wird. Die Politik der Türkei war der Anlass, warum der französische Präsident Emmanuel Macron der NATO den "Hirntod" attestiert hatte. So blockiert die Regierung in Ankara seit Jahren die NATO-Zusammenarbeit mit Drittstaaten, die bei ihr in Ungnade gefallen sind, wie Österreich. Hinzu kommen Alleingänge in Nordsyrien, beim Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 oder im Konflikt um Bergkarabach.

So empfiehlt die Expertengruppe zum Beispiel, die Blockade von Bündnisentscheidungen zu erschweren und einen neuen Verhaltenskodex einzuführen. Darüber hinaus sollen sich die NATO-Staaten verpflichten, vor allen sicherheitspolitisch relevanten Entscheidungen die Alliierten zu konsultieren. Auch die politisch motivierte Blockade von Entscheidungen aus Gründen ohne NATO-Bezug soll künftig tabu sein. Damit dürfte die Türkei zum Beispiel nicht mehr die Zusammenarbeit mit Österreich blockieren – oder Ungarn nicht mehr Spitzengespräche der NATO mit der Ukraine.

Als unwahrscheinlich gilt, dass die Türkei Vorschlägen zustimmt, die ihren Handlungsspielraum schwächen könnten.

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