Der Westen versteht nicht, dass Russlands Atomarsenal die Grundlage für seinen Großmacht-Status ist
Eine Analyse von Sergei Poletajew
Moskau hat im Konflikt um die Ukraine deutlich nachgelegt: Erst wurde grünes Licht gegeben für Referenden in ehemals von Kiew kontrollierten Gebieten und anschließend eine teilweise militärische Mobilmachung angekündigt. Man erinnerte den Westen zudem erneut daran, dass diese Aktionen von den mächtigsten Waffen in der Geschichte der Menschheit gedeckt werden. Dies wurde im Westen umgehend als "nukleare Erpressung" verurteilt.
Warum hören wir aus Moskau immer und immer wieder Ermahnungen in Bezug auf das nukleare Arsenal Russlands? Ist Russland wirklich bereit, solch brachiale Gewalt anzuwenden, oder ist es nur eine Form der verbalen Abschreckung?
Erstens besteht seit dem Ende des Kalten Krieges ein Ungleichgewicht zwischen Moskaus Nuklearmacht, seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten und seinem politischen Gewicht in der Welt. Zweitens werden diese Massenvernichtungswaffen von unseren ehemaligen Gegnern eher als Relikt der Vergangenheit denn als relevanter Faktor in den heutigen internationalen Beziehungen wahrgenommen.
Russland hingegen betrachtet sein Nukleararsenal als Grundlage seiner Souveränität und geht davon aus, dass solange man noch eine nukleare Großmacht ist, auch außenpolitisch eine Bedeutung beanspruchen kann, selbst als wirtschaftlicher Zwerg. Es war die Dreistigkeit, eine Großmacht zu sein, die Russlands Handeln in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum bestimmt hat. Diese unterschiedliche Wahrnehmung ist der fundamentale Grund für die Ukraine-Krise und deshalb können Russland und der Westen keine gemeinsame Basis finden, um zumindest zu versuchen, eine Art Einigung in Gang zu bringen.
Russland gibt sich nicht der Illusion hin, dass der Westen seine Ansichten über die Ukraine teilt. Wenn es solche Illusionen vor einem Jahrzehnt oder länger gegeben hat, sind sie längst verflogen. Der Kreml versucht nun, Washington und Brüssel aus der Ukraine zu drängen, die als Teil der eigenen lebenswichtigen Interessenzone betrachtet wird. Sollte dies fehlschlagen, hofft man zumindest, die Ukraine als Staat neu zu formatieren und ihr Bedrohungspotenzial zu beseitigen. Bei diesem Vorhaben ist es Moskau egal, was andere darüber denken.
Doch der Westen bleibt hartnäckig und dadurch sind die jahrelangen Versuche Moskaus, die Angelegenheit ohne Blutvergießen zu regeln, gescheitert. In der Zwischenzeit ist die Situation nur noch brisanter geworden und wir befinden uns jetzt im achten Monat eines groß angelegten Konflikts in der Ukraine, bei dem Kiew seit 2014 die Kontrolle über fünf Regionen verloren hat. Es stehen sich zwei Armeen gegenüber: eine mit dem flächenmäßig größten Land der Erde im Rücken und eine mit dem mächtigsten Militärblock der Menschheitsgeschichte als Schirmherr, der enorme Unterstützung leistet.
Indem Moskau seinen Einsatz erhöht hat und erneut seine Atomwaffen in Erinnerung ruft, sagt Russland dem Westen:
Je mehr ihr uns bedrängt und je mehr ihr uns in diesen konventionellen Konflikt in der Ukraine hineinzieht, desto näher rückt das nukleare Szenario, sowohl taktisch – Angriffe auf bestimmte Ziele im Operationsgebiet – als auch strategisch, also mit Interkontinentalraketen. Je mehr ihr versucht, uns in die Ecke zu drängen, desto weniger Wahlmöglichkeiten werdet ihr uns lassen.
In einem Atomkrieg kann es keine Gewinner geben. Euer militärischer Sieg in der Ukraine ist somit unmöglich. Ihr habt also zwei Möglichkeiten: Entweder Kiew weiter zu unterstützen oder die direkte Unterstützung zurückzuziehen. Die Ukraine wird diesen Krieg so oder so verlieren und ihr könntet mit ihr verlieren oder ihr schränkt euer Engagement ein – und werdet dadurch überleben.
Man könnte argumentieren, dass die vagen Andeutungen des Kremls nicht darauf abzielen, Entspannung zu finden, sondern eher die Verunsicherung zu steigern und den Gegner dazu zu zwingen, darüber nachzudenken, wo genau die roten Linien gezogen werden sollten.
Erstens besteht für Russland das militärische Ziel Nummer eins darin, die ukrainische Armee zu besiegen. Der Kreml scheint zuversichtlich, dass er nach seiner Teilmobilmachung mit der ukrainischen Armee und dem westlichen Hinterland der Ukraine fertig werden kann. Es ist jedoch nicht sicher, ob man auch mit den eingesetzten westlichen Waffensystemen fertig werden kann.
Zweitens ist es wahrscheinlich, dass über diskrete diplomatische Kanäle klare Botschaften übermittelt werden, über das, was Moskau für absolut inakzeptabel hält. Ohnehin ist die NATO bei der Ausweitung ihrer Waffenlieferungen sehr vorsichtig geblieben und hat bisher kategorisch nicht zugelassen, dass mit ihren Waffen das russische Kernland und die Krim angegriffen werden, während sie gleichzeitig auch noch nicht mit ihrer Luftwaffe und Luftverteidigung interveniert hat.
Was also kommt als Nächstes? Nun, es gibt drei Szenarien. Lassen Sie uns diese in entsprechende Stimmungslagen aufteilen.
Schwarz: Als Reaktion auf die neuesten russischen Aktionen erhöht die NATO abermals ihren Einsatz und intensiviert ihr Engagement, um Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Dies ist der Weg, der zum nuklearen Krieg führt, obwohl dabei noch viele Brücken zu überqueren sind.
Grau: Einfrieren des Konflikts in seinem derzeitigen Zustand mit der fortwährenden Nichtanerkennung von Russlands neuen Grenzen. Dadurch wird die Ukraine auseinandergerissen und muss sich auf weitere Kämpfe in der Zukunft vorbereiten, wobei die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen für viele Jahre ruiniert bleiben.
Sonnenschein: Dazu muss den westlichen Staatsführern das Bewusstsein für die Realität der nuklearen Bedrohung klar werden. Dann – und nur dann – werden sie das Interesse an der Ukraine verlieren. In Bezug auf Russland hingegen wird es sinnvoll sein, die Beziehungen wiederherzustellen, im vollen Wissen darüber, welche rote Linien in Zukunft nicht überschritten werden dürfen. Dann – und nur dann – können wir endlich weiterkommen.
Dieser Artikel wurde zuerst von profile.ru veröffentlicht.
Übersetzt aus dem Englischen.
Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project.
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