Meinung

Boeing und die USA sterben an Angst und Pessimismus

Jede Nation hat ihre Symbole, darunter auch industrielle Symbole, die fortbestehen müssen. Was jedoch die US-Ikone Boeing betrifft, spinnen bei einigen Maschinen die Autopiloten, bei anderen fallen die Türen ab – doch warum bricht das Symbol der US-Industrie-Epoche wirklich zusammen?
Boeing und die USA sterben an Angst und PessimismusQuelle: Gettyimages.ru

Von Dmitri Kosyrew

Was ist eigentlich das Problem mit Boeing? Wenn Flugzeugtüren während des Fluges abfallen, sollte man die Leitung des Unternehmens jemandem übertragen, der sein ganzes Leben mit der Qualitätskontrolle von Produkten zugebracht hat. Das empfiehlt Michael Fredenberg, ein Diplomingenieur und langjähriger technischer Redakteur.

So jemanden müsste man eigentlich finden. Immerhin spinnen bei einigen Boeings die Autopiloten, bei anderen fallen die Türen ab – und das schon seit mehreren Jahren.

Doch die Leser reagierten auf Fredenbergs Artikel mit der Bemerkung, dass das Unternehmen gerade die Geschäftsführung wechselte und Stephanie Pope zur Vertriebsleiterin ernannte, die ein Programm zur Förderung der geschlechtsspezifischen und sonstigen Vielfalt im Unternehmen, insbesondere bei Frauen, sponsert. Was ist also zu erwarten?

Anders könnte es wohl nicht sein. Jede Nation hat ihre Symbole, nicht unbedingt industrielle Symbole, die fortbestehen müssen – für die eigene Selbstachtung des Landes. Und wir sprechen hier von einem Konzern, dessen "fliegende Festungen" Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zerbombten und dessen B-52-Monster Indochina bombardierten (diese Flugmaschinen fliegen übrigens immer noch). Und das erste Düsen-Militärflugzeug, und das erste Düsen-Passagierflugzeug, und die berühmte 747 …

Das Beweinen des Untergangs der USA ist ein ganzer Wirtschaftszweig in den Vereinigten Staaten, der sich zu Beginn unseres Jahrhunderts zu entwickeln begann. Aber warum nur in den USA, und warum nicht schon früher? Heute zitiert die Zeitschrift The American Conservative einen Roman des Engländers John le Carré. Und da gibt es diese Szene. Die B-52 sind gescheitert, die Evakuierung Saigons steht kurz bevor, und ein US-Oberst schüttelt einem britischen Geheimdienstoffizier die Hand und sagt: "Heißen Sie den Neuzugang willkommen. Die Vereinigten Staaten haben soeben beantragt, dem Klub der zweitrangigen Mächte beizutreten, in dem ihr Briten, so viel ich weiß, Vorsitzender, Präsident und ältestes Mitglied seid."

Das Erscheinungsjahr des Romans sowie das Jahr der Ereignisse in Saigon ist 1974. Wussten sie schon damals etwas? Dass der Hegemon zweitrangig sein würde?

Aber das ist eine mystische Vorgehensweise. Es gibt einen viel rationaleren, sogar arithmetischen Ansatz. Boeing ist kein Finanzdienstleister, sondern ein Industrieunternehmen. Und wer ist heute der erste Produzent der Welt? China, dessen Anteil unterschiedlich definiert wird, aber manchmal 45 Prozent der weltweiten Industrieproduktion ausmacht. Und es stellt sich die Frage: Woher soll ein Konzern, selbst ein legendärer, die nötige Zahl von Mitarbeitern – vom Maschinenarbeiter bis zum genialen Erfinder – bekommen, wenn die Zahl der im eigenen Land verfügbaren Ressourcen einfach jedes Jahr sinkt? Das heißt, die nationale Ingenieur- und Produktionsschule schrumpft.

Und das Interessanteste sind hier die Bemerkungen eines Mannes, der nicht über Boeing schreibt, sondern über die allgemeine Situation und die Stimmung im Lande. Dies ist bereits eine dritte Sichtweise. Es geht um Stephan Helgesen, einen pensionierten Diplomaten, über 80 Jahre alt. Und er sagt: "Früher haben wir alles Mögliche gebaut, hergestellt und verkauft. Wir konnten alles an jeden verkaufen. Weil es auch nach Ablauf des Gültigkeitszeitraums noch funktionierte." (Übrigens wurden auch US-Ideen auf die gleiche Weise verkauft – dieser Diplomat konnte das sehr gut erkennen.) Und jetzt, sagt er, nehmen wir selbst das Land nicht mehr auf dieselbe Weise wahr, wir haben den Glauben an das Land verloren, wir haben Angst vor unserem eigenen Land und unseren Landsleuten, wir haben Angst, miteinander zu streiten – wir könnten ja jemanden beleidigen. Unsere unterschiedlichen Auffassungen von Politik, Kultur und Werten hätten uns auf einen Weg gebracht, die zum Zusammenbruch der Gesellschaft führe.

Also Angst und Pessimismus. Hier gibt es etwas sehr Interessantes und mathematisch Undefinierbares. Man nennt es den Zeitgeist, den Geisteszustand. Wovon hängt dieser Geist ab – vom materiellen Wohlstand? Aber es waren die 30er- und frühen 50er-Jahre, als Boeing ein Wunderwerk nach dem anderen schuf. Die Menschen waren damals nicht wohlhabend, und in den 30er-Jahren war der Wohlstand überhaupt nicht spürbar. Aber die Menschen waren sich sicher, dass man etwas Einzigartiges entwickeln und herstellen konnte und dass es perfekt funktionieren würde – sie schufen es und waren stolz darauf. Und in einer solchen Situation störten unterschiedliche Ansichten über etwas niemanden, weil es immer noch gemeinsame Ansichten über die wichtigsten Dinge gab.

Warum bricht eine solche Epoche zusammen? Liegt es daran, dass die technische und produktive Basis zerfällt? Oder bricht sie im Gegenteil zusammen, weil sich der Geisteszustand verschlechtert hat und alle miteinander streiten? Jedenfalls sind große Epochen deswegen denkwürdig, weil plötzlich viele Menschen – manchmal gegen alle Widerstände – beginnen, an sich selbst und an das eigene Land zu glauben, und diese Menschen haben keine Angst, frei zu sagen, was sie denken, und das zu tun, was sie gut können.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 4. April 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.

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